Natürliches soziales System
Es ist offenbar, dass die Ontogenese eines Metazellers durch den Bereich der Interaktionen, der diesen als ganze Einheit kennzeichnet, bestimmt wird und nicht durch die individuellen Interaktionen der den Metazeller bildenden Zellen. In anderen Worten: Das Leben eines vielzelligen Individuums als Einheit vollzieht sich zwar im Operieren seiner Bestandteile, es ist aber nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmt.

Metazeller weisen eine operationale Geschlossenheit ihrer Organisation auf: Ihre Identität ist durch ein Netz von dynamischen Prozessen gekennzeichnet, deren Wirkungen das Netz nicht überschreiten.

Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela

Es hat sich vom Anfang komplexeren Lebens an erwiesen, dass Verteidigung und Beutezug durch eine Gruppe von sich in ihren Talenten und Kompetenzen ergänzenden oder potenzierenden Individuen dem Einzelkämpfertum deutlich überlegen ist.
Sobald aber unterschiedlich befähigte Geschöpfe ihr Überleben im sozialen Verbund organisieren, bilden sich entsprechend ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen unterschiedliche Funktionen oder Rollen heraus, die ihnen bei der urwüchsigen Optimierung der gemeinsamen Überlebensstrategie jeweils zufallen.

System

1. Lehre, Theorie; (geh.): Lehrgebäude; (bildungsspr.): Doktrin.
2. a) Aufbau, Gliederung, Gliederungsprinzip, Ordnung, Ordnungsprinzip, Organisation, Schema, Struktur, Zusammenhang; (bildungsspr.): Systematik.
b) Methode, Praktik, Praxis, Strategie, Taktik, Technik, Verfahren, Verfahrensweise, Vorgehen, Vorgehensweise.
3. Gesellschaftsform, Gesellschaftsordnung, Herrschaftsform, Regierung, Regierungsform, Staatsform; (meist abwertend): Regime.
4. Geflecht, Netz, Netzwerk.
© Duden - Das Synonymwörterbuch, 3. Aufl. Mannheim 2004 [CD-ROM]

Was heißt eigentlich "sozial"? Wir Menschen haben uns daran gewöhnt, dieses Wort überwiegend im Zusammenhang mit menschlichen Verhaltensweisen zu gebrauchen und darin einen hohen Grad an absichtlicher oder intentionaler Verhaltensdisposition zu subsumieren. Dabei verhalten sich alle Lebewesen, die ihr Überleben im Gruppen sichern, in einer gewissen Weise sozial, nämlich gemeinnützig, uneigennützig oder hilfsbereit, und dies auf ganz natürliche Art, der zwar eine Absicht oder Intention durch den menschlichen Beobachter unterstellt werden kann, eine solche aber nicht im Geringsten in sich trägt.

Im Gegenteil, soziale Tiere verhalten sich sozial, weil sie durch ein phylogenetisch entwickeltes Verhaltensprogramm auf ein kooperatives Verhaltenspektrum festgelegt sind, das das Überleben ihrer Art über die Bildung von gemeinsam sammelnden, jagenden oder sich verteidigenden Gruppen teilweise über Jahrmillionen hinweg gewährleistet hat. Die Vorteile, die sich aus gemeinsamer Beutejagd oder Verteidigung gegen einen, einem einzelnen Individuum überlegenen Jäger ergeben, sind offensichtlich.
Die Übertragung der die Existenz der Art insgesamt sichernden Verhaltensweisen wird dabei durch Gehirninstanzen organisiert, die ich als "seelische" bezeichne. In diesen neuronalen Netzwerken, den Seelen der jeweils lebenden Generation, werden die emotionalen Prozesse verwaltet, über die die phylogenetisch gesammelten Überlebenserfahrunen der vorangegangenen Generationen vorgehalten und in die Ontogenese der aktuell lebenden einfließen.

Der überwiegende Teil der irdischen Lebewesen existiert somit in natürlichen sozialen Systemen, die sich über Jahrmillionen entwickelt haben. Ohne jegliche intersubjektive Verständigung über die Regeln, die das gemeinsame Verhalten koordinieren, verfügen sie über ein phylogenetisch angelegtes Verhaltensspektrum, das über emotionale Prozesse ein Leben in der Gruppe organisiert und damit ein Überleben der Art in sich wandelnden Umwelten insgesamt ermöglicht.

Leben und Überleben in sozialen Kontexten ist somit ein allgemeines, nicht nur beim Menschen angelegtes Prinzip. Die Regeln, die sich dabei phylogenetisch gebildet haben, sind nicht in der Sprache und den intersubjektiv stabilisierten Sinnkonstrukten des Menschen entstanden, sondern durch Jahrmillionen gemeinsamer Anpassung in sich ständig verändernden Umwelten.
In der evolutionären Entwicklung mussten Möglichkeiten gefunden werden, mit der die Erfahrungen einer Generation an die nächste vermittelt werden konnten. Dies geschah durch die Einführung emotionaler Prozesse, mit deren Hilfe das Verhalten der jeweils lebenden Generation im Sinne der bereits gemachten Erfahrungen gesteuert werden konnte.

Das gilt auch für den Menschen. In Jahrmillionen evolutionärer Entwicklung wurde in seinen Genen ein phylogenetisch entwickeltes Verhaltensspektrum programmiert, das für das Überleben seiner Art ausschlaggebend war. Über emotionale Prozesse, die durch ein autopoietisches neuronales Netzwerk in seinem Gehirn verwaltet werden, wird sein Verhalten nach evolutionär erprobten, auf das Überleben der Gruppe angelegten Prinzipien gesteuert. Diese "seelischen" Instanzen kennen keine Sprache und agieren ganz aus ihrer phylogenetisch vorgegebenen Struktur heraus. Sie bestimmen, wie wir uns fühlen, wie wir im sozialen Kontext reagieren, wen wir sympathisch finden, wovor wir Angst haben, etc.

Über die Entwicklung der Sprachen entstand jedoch für die menschliche Spezies eine neue, symbolische Dimension, in der sich soziale System von ihren natürlichen Wurzeln lösen und ganz eigene Wege gehen konnten. Es entstanden Systeme, in denen soziale Verhaltensweisen nicht mehr ausschließlich durch seelische Gehirninstanzen mittels phylogenetisch entwickelter emotionaler Prozesse gesteuert wurden. Vielmehr konnten über die Symbolik der Sprache zusätzliche Regeln intersubjektiv vereinbart werden, die, wie sich zeigen sollte, die Chancen für ein gemeinsames Überleben weit über das hinaus, was die natürlichen Verhaltensprogramme bisher geleistet hatten, steigern konnte.

Von dem Moment an, in dem über sprachlich-symbolische Kommunikation Regeln des gemeinsamen Miteinanders vereinbart werden konnten, kamen zu den weiterhin wirkenden natürlichen, seelisch-emotionalen Mechanismen zusätzliche, vom Menschen selbst festgelegte hinzu. Die Ära der vom Menschen selbst gesteuterten Organisation des gemeinschaftlichen Lebens und Überlebens nahm ihren Lauf, und der Geist, die neuronale Instanz, in der die Bedeutungszuweisungen der Sprache verwaltet werden, weitete seinen Einfluss immer schneller aus.

Funktion / Rolle

Funktion:
a) Anforderung, Arbeit, Aufgabe, Auftrag, Bestimmung, Pflicht, Rolle, Tätigkeit, Verpflichtung, Zweck; (geh.): Obliegenheit; (bildungsspr.): Destination, Mission.
b) Amt, Beruf, Eigenschaft, Geschäft, Position, Posten, Stelle, Stellung; (ugs.): Job.

"Funktion" und "System" sind zwei elementare Begriffe der sprachlichen Dimension. Sie umschreiben und verweisen auf kosmische Wirkungsprinzipien, die allgegenwärtig zu sein scheinen. Denn überwiegend alles organisch und anorganisch Existierende besteht offenbar aus unterschiedlich fein differenzierbaren Teilen, durch deren gegenseitig koordiniertes Zusammenwirken dessen übergeordnetes Ganzes entsteht. Die Funktion ist dabei die Aufgabe, Rolle, Leistung oder Wirkung, die ein unselbständiger Teil bzw. ein Element hat, spielt oder erfüllt, während das System die Beziehung zwischen den Teilen bzw. Elementen und diesem Ganzen beschreibt, durch deren Stabilität es sich konstituiert.
Die einzelnen Teile übernehmen somit unterschiedliche Funktionen im Zusammenhang der gemeinsamen Leistungserbringung, deren aufeinander abgestimmte Wirkungen dann im Verbund der Elemente die Leistungen ermöglichen, die charakteristisch für die Ebene des jeweiligen Systems sind.

Eng verknüpft mit den Begriffen Funktion und System ist der Begriff "Emergenz", der von G.H. Lewes in die Philosophie eingeführt und in der Theorie der Selbstorganisation weitergehend verwendet wurde. Es wird damit allgemein das Phänomen umschrieben, dass die Eigenschaften eines Systems nicht ausschließlich aus den Eigenschaften seiner Elemente heraus zu erklären sind. D.h. auf der Ebene eines Systems erscheinen neue Qualitäten, die sich nur aus dem spezifischen Zusammenwirken seiner Teile, und eben nicht aus der einfachen Summation von deren individuellen Eigenschaften ergeben können.

Schließlich kommt bei den organischen Systemen ein Prinzip hinzu, das sich, wie wir später sehen werden, auch in allen sozialen Systemen und unabhängig davon ob sie natürlich entstanden sind oder durch den Menschen organisiert wurden, manifestiert: die Spezialisierung der Elemente eines solchen Systems. Die Art dieser Spezialisierung und die Effizienz der Organisation des anschließenden Zusammenspiels der Teile bestimmt das emergente Leistungspotenzial des dadurch entstehenden Ganzen, das die individuellen Möglichkeiten eines jeden einzelnen Elements weit übertreffen kann. Die Tatsache dieser enormen Steigerung der Leistungsfähigkeit eines aus spezialisierten Elementen gebildeten Ganzen war wohl vom Anfang organischen Lebens an der Grund für die evolutionäre Entwicklung solcher Systeme.

Von ganz wesentlicher Konsequenz für alles Lebende auf unserer Erde war dabei, dass im beginnenden organischen Leben, das sich zunächst durch einfache Zellteilung ausbreitete, in den sich entwickelnden lebenden Systemen nicht jedes Mal eine neuartige Zelle entstand, wenn sich eine neue Funktion innerhalb eines Systems als überlebensfördernd erwies. Vielmehr ging die Natur schon in der Entstehung organischen Lebens den Weg der Spezialisierung durch funktionale Einschränkung und Konzentration des grundsätzlich angelegten und vorhandenen potenziellen Ganzen. Jede Zelle, die im Kontext ihres Systems entstand, trug in sich dessen gesamtes Funktionspotenzial, hätte somit jede im System erforderliche Funktion und somit Position einnehmen können. Um dennoch den Wirkungskreis des Systems und damit dessen zellulär mögliches Interaktionspotenzial so weit wie es ging auszuschöpfen, wurden die im Grunde zu allem fähigen Zellen auf eine, ihre jeweilige, im Kontext des optimalen Systems erforderliche Funktion "programmiert" und darauf eingeschränkt.
Nichts anderes findet auch noch heute in allen lebenden Wesen, einschließlich dem Menschen, statt. Jede Zelle verfügt zwar über das gesamte Erbgut ihres Organismuses, wird aber durch genetische Schaltungen auf einen Bruchteil ihrer potenziell vorhandenen Fähigkeiten "programmiert" und übernimmt derart spezialisiert im Verbund mit den anderen ihre spezifische Funktion in der Konstituierung der typischen Emergenz eines jeweils lebenden Systems.
Wie wir weiter unten noch sehen werden, geschieht im Prinzip dasselbe in den sozialen Systemen des Menschen. Über koordinierte funktionale Arbeitsteilung ermöglichen spezialisierte Funktionsträger einen höheren Wirkungsgrad, als jeder Einzelne für sich jemals erreichen könnte. Auch hier werden die Potentiale des Einzelnen auf einen spezialisierten Teil seiner Fähigkeiten konzentriert. Das Problem mit dem Menschen ist nur, dass er sich nicht so einfach wie eine Zelle auf einen Teil seiner Fähigkeiten "programmieren" und dann in das Räderwerk des Ganzen "integrieren" lässt.

Zunächst einmal müssen wir jedoch klären, was die Konstruktion der Funktion in der Sprache ist und welche fundamentale Veränderung menschlicher Entwicklung dadurch möglich wurde.

In natürlichen Systemen ist die Funktion einer Zelle, eines Organs oder eines ganzen Organismus unmittelbar an die Einheit gebunden, die sie ausmacht und erfüllt. Konsequenterweise ist damit die Erfüllung einer Funktion unmittelbar an die physische Präsenz und Kompetenz der sie ausmachenden Einheit gebunden.
In natürlichen sozialen Systemen konstituieren sich soziale Funktionen somit durch die physische Präsenz und Kompetenz der einzelnen Gruppenmitglieder. In einem kontinuierlichen Kräftemessen werden die einzelnen Positionen bestimmt und die Rollen geklärt, die der oder die Einzelne im Verband einnehmen kann oder muss. Die Erhaltung der sozialen Funktion bzw. Rolle bleibt dabei an die ursprünglich konstituierende physische Präsenz und Kompetenz des Wesens gebunden, das sie erkämpft und eingenommen hat. Die Stabilität natürlicher System ist somit nur so lange gewährleistet, wie das Kräfteverhältnis der stets anwesenden einzelnen Funktionsträger in einer einmal erstrittenen und austarierten Konstellation gewahrt bleibt.
Das Gerangel um Position, Einfluss und Macht ist ein tagtäglicher Kampf, der nie aufhört. Ständig wird um die Privilegien gestritten, die ein höherer Rang mit sich bringt. Alters- oder verletzungsbedingte Schwächungen einzelner Rudelmitglieder oder gar deren Tod bedeuten, dass in einem unmittelbar folgenden Ringen geklärt wird, wie sich von dem Moment an die Rollen bzw. Funktionen im sozialen Verbund verschieben werden.

Durch die intersubjektiv über Sprache symbolisch vereinbarte Funktion wird ein fundamentale Änderung initialisiert.

Die Einnahme und Ausübung einer bestimmten Funktion in einer Gruppe wird

Über die sprachliche Konstruktion der sozialen Funktion in der sprachlich-virtuellen Dimension erfährt nun auch die soziale Rolle, wie schon vormals die Person, eine Entkoppelung von ihrem physischen Funktionsträger.

 

Darin begründet sich eine wesentlich größere Stabilität sprachlich-virtuell konstruierter sozialer Systeme, da eine Schwächung, Verletzung oder der Tod eines Funktionsträgers nicht mehr bedeutet, dass das ganze System dadurch in Unordnung gerät und unmittelbar neu reguliert werden muss. Durch ihre Entkoppelung überdauert die sprachlich kodierte Rolle vielmehr

In diesem simplen Effekt ist die Systematik angelegt, über die sich die heute existierenden sprachlichen Mega-Systeme in der sprachlich-virtuellen Dimension ausbreiten, stabilisieren und festsetzen konnten.

Wie konstituiert sich Macht im natürlichen System?

Über Jahrmillionen galt das Grundprinzip, dass zur Erreichung eines bestimmten Ranges in einer Gruppe körperliche Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit ausschlaggebend war. Schwanden diese körperlichen Ressourcen, war ein einmal erreichter Status durch stets auf ihre Chance lauernde und immer präsente Konkurrenten schnell dahin. Die Konstanz einer bestimmten Hierarchie in einer Gruppe war somit nur so lange gegeben, wie das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern stabil blieb.
Darüber hinaus war für die Durchsetzung der durch Rangkämpfe erreichten Privilegien eine gewisse Anwesenheit in der Gruppe erforderlich, da deren Missachtung nur durch ein sofortiges Eingreifen und eine unmittelbare Ahndung unterbunden werden konnten.

Das Erreichen und die Sicherung von Rang und Status in einer Gruppe erforderte deshalb einerseits die dafür nötigen körperlichen Ressourcen und andererseits eine ständige, physische Präsenz in der Nähe der Gruppe.

==> Sicherung einer natürlichen Generationenfolge durch Alterung

 

Die Natur als Organisator

 

Soziale Systeme und deren Organisationsprinzipien sind keine Erfindung des modernen, sprachbegabten Menschen. Wir haben für unsere sprachliche Dimension lediglich das grundsätzliche Design übernommen und weiterentwickelt, das über Tausende von Generationen hinweg erprobt worden war und sich im Überlebenskampf unserer Vorfahren bewährt hatte.
Wir konnten gar nicht anders, weil in unserem Gehirn neuronale Strukturvorgaben angelegt sind, die die Wahrnehmung und damit Bewältigung von Komplexität mit kosmischen Grundsätzen lenken.
 
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