Natürliches soziales System | |||||
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© Lothar Seckinger • Köln 2008-2019 | Es ist offenbar, dass die Ontogenese eines Metazellers durch den Bereich der Interaktionen, der diesen als ganze Einheit kennzeichnet, bestimmt wird und nicht durch die individuellen Interaktionen der den Metazeller bildenden Zellen. In anderen Worten: Das Leben eines vielzelligen Individuums als Einheit vollzieht sich zwar im Operieren seiner Bestandteile, es ist aber nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmt.
Metazeller weisen eine operationale Geschlossenheit ihrer Organisation auf: Ihre Identität ist durch ein Netz von dynamischen Prozessen gekennzeichnet, deren Wirkungen das Netz nicht überschreiten. Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela |
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1. Lehre, Theorie; (geh.): Lehrgebäude; (bildungsspr.): Doktrin. Was heißt eigentlich "sozial"? Wir Menschen haben uns daran gewöhnt, dieses Wort überwiegend im Zusammenhang mit menschlichen Verhaltensweisen zu gebrauchen und darin einen hohen Grad an absichtlicher oder intentionaler Verhaltensdisposition zu subsumieren. Dabei verhalten sich alle Lebewesen, die ihr Überleben im Gruppen sichern, in einer gewissen Weise sozial, nämlich gemeinnützig, uneigennützig oder hilfsbereit, und dies auf ganz natürliche Art, der zwar eine Absicht oder Intention durch den menschlichen Beobachter unterstellt werden kann, eine solche aber nicht im Geringsten in sich trägt. Im Gegenteil, soziale Tiere verhalten sich sozial, weil sie durch ein phylogenetisch entwickeltes Verhaltensprogramm auf ein kooperatives Verhaltenspektrum festgelegt sind, das das Überleben ihrer Art über die Bildung von gemeinsam sammelnden, jagenden oder sich verteidigenden Gruppen teilweise über Jahrmillionen hinweg gewährleistet hat. Die Vorteile, die sich aus gemeinsamer Beutejagd oder Verteidigung gegen einen, einem einzelnen Individuum überlegenen Jäger ergeben, sind offensichtlich. Der überwiegende Teil der irdischen Lebewesen existiert somit in natürlichen sozialen Systemen, die sich über Jahrmillionen entwickelt haben. Ohne jegliche intersubjektive Verständigung über die Regeln, die das gemeinsame Verhalten koordinieren, verfügen sie über ein phylogenetisch angelegtes Verhaltensspektrum, das über emotionale Prozesse ein Leben in der Gruppe organisiert und damit ein Überleben der Art in sich wandelnden Umwelten insgesamt ermöglicht. Leben und Überleben in sozialen Kontexten ist somit ein allgemeines, nicht nur beim Menschen angelegtes Prinzip. Die Regeln, die sich dabei phylogenetisch gebildet haben, sind nicht in der Sprache und den intersubjektiv stabilisierten Sinnkonstrukten des Menschen entstanden, sondern durch Jahrmillionen gemeinsamer Anpassung in sich ständig verändernden Umwelten. Das gilt auch für den Menschen. In Jahrmillionen evolutionärer Entwicklung wurde in seinen Genen ein phylogenetisch entwickeltes Verhaltensspektrum programmiert, das für das Überleben seiner Art ausschlaggebend war. Über emotionale Prozesse, die durch ein autopoietisches neuronales Netzwerk in seinem Gehirn verwaltet werden, wird sein Verhalten nach evolutionär erprobten, auf das Überleben der Gruppe angelegten Prinzipien gesteuert. Diese "seelischen" Instanzen kennen keine Sprache und agieren ganz aus ihrer phylogenetisch vorgegebenen Struktur heraus. Sie bestimmen, wie wir uns fühlen, wie wir im sozialen Kontext reagieren, wen wir sympathisch finden, wovor wir Angst haben, etc. Über die Entwicklung der Sprachen entstand jedoch für die menschliche Spezies eine neue, symbolische Dimension, in der sich soziale System von ihren natürlichen Wurzeln lösen und ganz eigene Wege gehen konnten. Es entstanden Systeme, in denen soziale Verhaltensweisen nicht mehr ausschließlich durch seelische Gehirninstanzen mittels phylogenetisch entwickelter emotionaler Prozesse gesteuert wurden. Vielmehr konnten über die Symbolik der Sprache zusätzliche Regeln intersubjektiv vereinbart werden, die, wie sich zeigen sollte, die Chancen für ein gemeinsames Überleben weit über das hinaus, was die natürlichen Verhaltensprogramme bisher geleistet hatten, steigern konnte. Von dem Moment an, in dem über sprachlich-symbolische Kommunikation Regeln des gemeinsamen Miteinanders vereinbart werden konnten, kamen zu den weiterhin wirkenden natürlichen, seelisch-emotionalen Mechanismen zusätzliche, vom Menschen selbst festgelegte hinzu. Die Ära der vom Menschen selbst gesteuterten Organisation des gemeinschaftlichen Lebens und Überlebens nahm ihren Lauf, und der Geist, die neuronale Instanz, in der die Bedeutungszuweisungen der Sprache verwaltet werden, weitete seinen Einfluss immer schneller aus. Funktion: "Funktion" und "System" sind zwei elementare Begriffe der sprachlichen Dimension. Sie umschreiben und verweisen auf kosmische Wirkungsprinzipien, die allgegenwärtig zu sein scheinen. Denn überwiegend alles organisch und anorganisch Existierende besteht offenbar aus unterschiedlich fein differenzierbaren Teilen, durch deren gegenseitig koordiniertes Zusammenwirken dessen übergeordnetes Ganzes entsteht. Die Funktion ist dabei die Aufgabe, Rolle, Leistung oder Wirkung, die ein unselbständiger Teil bzw. ein Element hat, spielt oder erfüllt, während das System die Beziehung zwischen den Teilen bzw. Elementen und diesem Ganzen beschreibt, durch deren Stabilität es sich konstituiert. Eng verknüpft mit den Begriffen Funktion und System ist der Begriff "Emergenz", der von G.H. Lewes in die Philosophie eingeführt und in der Theorie der Selbstorganisation weitergehend verwendet wurde. Es wird damit allgemein das Phänomen umschrieben, dass die Eigenschaften eines Systems nicht ausschließlich aus den Eigenschaften seiner Elemente heraus zu erklären sind. D.h. auf der Ebene eines Systems erscheinen neue Qualitäten, die sich nur aus dem spezifischen Zusammenwirken seiner Teile, und eben nicht aus der einfachen Summation von deren individuellen Eigenschaften ergeben können. Schließlich kommt bei den organischen Systemen ein Prinzip hinzu, das sich, wie wir später sehen werden, auch in allen sozialen Systemen und unabhängig davon ob sie natürlich entstanden sind oder durch den Menschen organisiert wurden, manifestiert: die Spezialisierung der Elemente eines solchen Systems. Die Art dieser Spezialisierung und die Effizienz der Organisation des anschließenden Zusammenspiels der Teile bestimmt das emergente Leistungspotenzial des dadurch entstehenden Ganzen, das die individuellen Möglichkeiten eines jeden einzelnen Elements weit übertreffen kann. Die Tatsache dieser enormen Steigerung der Leistungsfähigkeit eines aus spezialisierten Elementen gebildeten Ganzen war wohl vom Anfang organischen Lebens an der Grund für die evolutionäre Entwicklung solcher Systeme. Von ganz wesentlicher
Konsequenz für alles Lebende auf unserer Erde war dabei, dass im beginnenden organischen Leben, das sich zunächst durch einfache Zellteilung ausbreitete, in den sich entwickelnden lebenden Systemen nicht jedes Mal eine neuartige Zelle entstand, wenn sich eine neue Funktion innerhalb eines Systems als überlebensfördernd erwies. Vielmehr ging die Natur schon in der Entstehung organischen Lebens den Weg der Spezialisierung durch funktionale Einschränkung und Konzentration des grundsätzlich angelegten und vorhandenen potenziellen Ganzen. Jede Zelle, die im Kontext ihres Systems entstand, trug in sich dessen gesamtes Funktionspotenzial, hätte somit jede im System erforderliche Funktion und somit Position einnehmen können. Um dennoch den Wirkungskreis des Systems und damit dessen zellulär mögliches Interaktionspotenzial so weit wie es ging auszuschöpfen, wurden die im Grunde zu allem fähigen Zellen auf eine, ihre jeweilige, im Kontext des optimalen Systems erforderliche Funktion "programmiert" und darauf eingeschränkt. Zunächst einmal müssen wir jedoch klären, was die Konstruktion der Funktion in der Sprache ist und welche fundamentale Veränderung menschlicher Entwicklung dadurch möglich wurde. In natürlichen Systemen ist die Funktion einer Zelle, eines Organs oder eines ganzen Organismus unmittelbar an die Einheit gebunden, die sie ausmacht und erfüllt. Konsequenterweise ist damit die Erfüllung einer Funktion unmittelbar an die physische Präsenz und Kompetenz der sie ausmachenden Einheit gebunden. Durch die intersubjektiv über Sprache symbolisch vereinbarte Funktion wird ein fundamentale Änderung initialisiert. Die Einnahme und Ausübung einer bestimmten Funktion in einer Gruppe wird Über die sprachliche Konstruktion der sozialen Funktion in der sprachlich-virtuellen Dimension erfährt nun auch die soziale Rolle, wie schon vormals die Person, eine Entkoppelung von ihrem physischen Funktionsträger.
Darin begründet sich eine wesentlich größere Stabilität sprachlich-virtuell konstruierter sozialer Systeme, da eine Schwächung, Verletzung oder der Tod eines Funktionsträgers nicht mehr bedeutet, dass das ganze System dadurch in Unordnung gerät und unmittelbar neu reguliert werden muss. Durch ihre Entkoppelung überdauert die sprachlich kodierte Rolle vielmehr In diesem simplen Effekt ist die Systematik angelegt, über die sich die heute existierenden sprachlichen Mega-Systeme in der sprachlich-virtuellen Dimension ausbreiten, stabilisieren und festsetzen konnten. Wie konstituiert sich Macht im natürlichen System? Über Jahrmillionen galt das Grundprinzip, dass zur Erreichung eines bestimmten Ranges in einer Gruppe körperliche Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit ausschlaggebend war. Schwanden diese körperlichen Ressourcen, war ein einmal erreichter Status durch stets auf ihre Chance lauernde und immer präsente Konkurrenten schnell dahin. Die Konstanz einer bestimmten Hierarchie in einer Gruppe war somit nur so lange gegeben, wie das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern stabil blieb. Das Erreichen und die Sicherung von Rang und Status in einer Gruppe erforderte deshalb einerseits die dafür nötigen körperlichen Ressourcen und andererseits eine ständige, physische Präsenz in der Nähe der Gruppe. ==> Sicherung einer natürlichen Generationenfolge durch Alterung
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