Konstruktion der Person in der sprachlichen Dimension | |||||
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© Lothar Seckinger • Köln 2008-2019 |
Selbstbewusstsein, Bewusstheit, Geist - das sind Phänomene, die in der Sprache stattfinden. Deshalb finden sie als solche nur im sozialen Bereich statt. Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela We are one thing to one man and another thing to another. There are parts of the self which exist only for the self in relationship to itself. We divide ourselves up in all sorts of different selves with reference to our acquaintances. We discuss politics with one and religion with another. There are all sorts of different selves answering to all sorts of different social reactions. It is the social process itself that is responsible for the appearance of the self; it is not there as a self apart from this type of experience. George Herbert Mead Was wir in der Vergangenheit und insbesondere alltags-psychologisch "das" Selbst genannt haben, ist keine ontologische Substanz, keine kontextunabhängige und unwandelbare Essenz und auch keine besondere Art von Ding (d.h. kein Individuum im Sinne der philosophischen Metaphysik), sondern ein dynamischer Vorgang, nämlich eine sehr spezielle Art von repräsentationalem Inhalt in einer sehr speziellen Art von informationsverarbeitendem System. We may finally come to understand what a lot of our conscious social life has been all along - an interaction between images, a highly mediated process in which mental models of persons begin to causally influence one another. Thomas Metzinger Zuerst ist da ein Ich, das Teil der eigenen Wahrnehmungserfahrung ist. In meinem visuellen Feld kann ich z.B. leicht meine Hand vom Schreibblock, vom Tisch und von dem Bleistift, den sie hält, unterscheiden. Ich zweifle überhaupt nicht daran, dass die Hand ein Teil von mir ist, und dass der Block, der Tisch und der Bleistift dies nicht sind. Ernst von Glasersfeld |
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Wie wird ein biologisch-physisches Individuum zur Person in der sprachlich-virtuellen Dimension der menschlichen Spezies? In dem Moment, in dem eine Samenzelle auf eine Eizelle trifft, beginnt die individuelle Ontogenese eines Lebewesens. Ausgehend vom phylogenetischen Entwurf seiner Spezies reift ein Organismus heran, der bei seiner Geburt relativ optimal auf die Bedingungen seiner zukünftigen Lebensräume vorbereitet ist und sich dadurch schnell in die bestehenden Verhältnisse eingliedern kann. Rein biologisch-physisch ist dieser Prozess bei allen irdischen Lebewesen grundsätzlich gleich und führt bei den Arten mit sexueller Fortpflanzung zu einem männlichen oder weiblichen Geschöpf. Als solches ist dann wie jedes andere Lebewesen auch jede Frau und jeder Mann mit allen physischen, emotionalen sowie kognitiven Attributen ausgestattet, die sich in einer langen evolutionären Entwicklung für ihre Gattung als überlebensrelevant erwiesen haben. Für den Menschen gibt es nur einen entscheidenden Unterschied: zusätzlich zu seinem Eintritt als biologisches Lebewesen in den Kosmos der Kreaturen betritt er als Person die sprachliche Dimension menschlicher Existenz. Schon um den Moment herum, in dem sich das Werden eines Menschen durch eine eingetretene Schwangerschaft manifestiert und seine physische Existenz kaum mehr als ein sich schnell teilender Zellhaufen ist, fängt sein sprachliches Konstrukt in der sprachlich-virtuellen Dimension seiner Spezies an zu keimen. In den Gesprächen derjenigen, die von seinem Werden erfahren, nimmt seine virtuelle Gestalt erste Formen an, die, solange sein Geschlecht nicht bekannt ist, in ziemlich blumige Spekulationen ausarten können. Bis etwa zu seinem achtzehnten Lebensmonat reift in dem Gehirn des Geschöpfs dann die Kompetenz heran, die es mit seiner sprachlich konstruierten Gestalt vertraut machen und es als Person in die sprachlich-virtuelle Dimension integrieren wird. Es begreift, dass alle Gegenstände in seiner Umgebung einen ganz bestimmten Laut, einen Namen zugewiesen bekommen, und rasant werden von da an diese sprachlichen Bedeutungszuweisungen seiner Bezugspersonen in sein Laute- bzw. Wörterrepertoire integriert. Zwar kann auch jede andere Spezies wie beispielsweise ein Hund, eine Katze, ein Elefant, im Prinzip jedes Objekt Einzug in die sprachliche Dimension des Menschen erhalten, dort einen Namen, eine Geschichte, seinen Platz als sprachliches Konstrukt entwickeln und einnehmen. Aber all diese Wesen oder Objekte werden sich nicht daran orientieren können, werden ihre biologisch oder andersweitig determinierte Wesensart dadurch nicht verändern. Nicht-menschliche Lebewesen und Objekte existieren für sich selbst nicht in der Sprache. Sie sind für sich einfach, was sie sind, verhalten sich in dem Rahmen, den ihnen ihre Phylogenese oder die allgemeinen kosmisch-physikalischen Gesetze determinieren. Nur der Mensch lernt im Erlernen der Sprache sein sprachliches Konstrukt kennen, orientiert sich daran, nutzt es als Referenz, um in den ebenfalls sprachlich konstruierten Sozialsystemen menschlicher Gesellschaften anschlussfähig sein zu können. Mangels der Fähigkeit zum Spracherwerb bleibt jeder anderen Spezies die Dimension der Sprache verschlossen. Wie verinnerlicht und adaptiert ein physisches Individuum im Sprechenlernen sein sprachliches Pendant, und wie entsteht daraus in der sprachlich-virtuellen Dimension (s)eine Identität und Funktion, die ihm selbst und den Anderen im Umgang miteinander maßgeblich als Orientierung in der gegenseitigen Verhaltenskoordination dient? Was meint eigentlich Identität? 1. a) Echtheit; (Amtsspr.): Nämlichkeit. ====>>> Brain storming In der biologisch-physischen Dimension, im sprachlosen Sein, gibt es keine externe Referenz, über die sich ein Individuum beobachten kann. Dieses Wesen ist einfach nur, verhält sich im evolutionär vorgegebenen Rahmen seiner Umwelt sowie seiner anatomischen, kognitiven und emotionalen Bedingungen. In dieser Dimension gibt es deshalb kein Selbst, kein bewusstes Sein und keine Identität. Die Welt im Gehirn dieses Wesens ist eine neuronale Repräsentation in der die Tatsache des eigenen Seins nicht erscheint. Dazu fehlten schlicht die "Spiegel", über die eine Wahrnehmung des Selbst entstehen hätte können. Erst über das Medium Sprache konnte das menschliche Gehirn eine sprachlich-virtuelle Gestalt - ein Selbst - außerhalb seiner anatomischen Grenzen projizieren und damit auch kommunikativ für sich und die anderen zugänglich machen. Exkurs: Helen Kellers weiter Weg zur ihrer Person, damit zur symbolischen Repräsentation ihres Seins in der sprachlich-virtuellen Dimension ihrer Mitmenschen. Was hat eine intrasubjektiv und intersubjektiv sprachlich zur Person konstruierte Gestalt mit dem menschlichen Individuum zu tun, auf das sie verweist? "Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?" lautet der Titel eines Buches von Richard David Precht. Intuitiv hat sein Freund Guy Helminger, von dem er angeblich stammt, die richtige Spur verfolgt. Wir sind viele, denn in der sprachlich-virtuellen Gestalt widerfährt dem Menschen eine Entkoppelung von seiner unmittelbaren physischen Existenz. In ihr, dieser Gestalt, entsteht eine sprachlich konstruierte Referenz, die zwar auf das biologisch-physische Sein des kreatürlichen Individuums verweist, jedoch keineswegs an die tatsächlichen phänomenalen Gegebenheiten gebunden ist. Vielmehr kann diese Gestalt in der Symbolik der Sprache multiple virtuelle Formen annehmen, die mehr oder weniger, im Extremfall sogar nichts mit dem biologisch-physischen Geschöpf zu tun haben muss, auf das sie verweist. In jedem Gehirn, einschließlich unserem eigenen, das an uns denkt und sich mit uns beschäftigt, sei es weil es uns entweder direkt kennt oder über ein schriftliches sowie anderes Medium von uns Kenntnis erlangt, hausen phänomenal-sprachlich-virtuelle Phantome unserer biologisch-physischen Existenz. Als einem sich in seinem Milieu bewegendem Subjekt ist es uns dabei kaum möglich, unsere phänomenale äußere Erscheinung zu beobachten, und zu den Wahrnehmungen unserer Umwelt besitzen wir schon gar keinen direkten Zugang. Wir haben somit keine wirkliche Ahnung davon, welche Eindrücke sich in den anderen Kreaturen von uns formen und inwieweit sich diese mit unseren vagen eigenen decken. Wir wissen fast nichts darüber, welche Spuren unsere Gesten, unsere Mimik, unser Körper, unser ganzes Sein in den Gehirnen der Anderen hinterlässt. Nur über Rückschlüsse, die ihr Verhalten uns gegenüber liefert, können wir Annahmen darüber treffen. Diese kognitive Divergenz wird durch Sprache nicht überwunden. Im Gegenteil, die Entkoppelung der sprachlich-virtuellen Gestalt von der phänomenal-realen Existenz des Geschöpfs ermöglicht eine unendlich große Anzahl an Modellen, zu denen darauf verweisende Personenkonstrukte in den eigensinnigen Wahrnehmungsstrukturen jedes einzelnen Gehirns werden können. Zwar lernen wir in jeder direkten oder indirekten Begegnung Teile dieser Phantome kennen, modellieren wir unsere gegenseitigen Ausprägungen davon, ohne dass sie jedoch jemals eins werden könnten. Von unserem realen Sein, den Sehnsüchten und Bedürfnissen unserer biologisch-physischen Seelen können sich diese Phantome - einschließlich demjenigen, das wir von uns selbst kreieren - in ihrer sprachlich-virtuellen Ausprägung jedoch schon zu unseren Lebzeiten beliebig weit entfernen. Nach unserem physischen Tod fehlt schließlich jegliche Möglichkeit, eine Referenz zu unserem realen Sein herzustellen. Die sprachlich-virtuellen Konstrukte davon verlieren dann ihren Kontakt zur realen Dimension der menschlichen Existenz. Sie werden endgültig zu Illusionen, zu Schimären, die in den Gehirnen der noch Lebenden mehr oder weniger ihr volatiles virtuelles Dasein fristen. Konflikte zwischen Geschöpf und Person, Seele und Geist Warum kommt es relativ leicht zu einer Entfremdung zwischen dem physischen Individuum und seinem sprachlich-virtuellen Pendant, über das es in der sprachlichen Dimension als Person erscheint? Es ist die sprachlich-virtuelle Person in uns, die die Regungen der biologisch-physischen Seele zu vernachlässigen beginnt, da sie ihr für die in den Sinnkonstruktionen der menschlichen Sozialsysteme geforderten Verhaltensweisen zu oft keine anschlussfähigen Impulse zu liefern scheint. Person und Funktion Jeder Kreatur und jedem Objekt wird über die Merkmale ihrer sprachlich-virtuellen Gestalt ihr Platz in der Dimension der Sprache zugewiesen, was auf die Wahrnehmung des nicht-sprachlich Existierenden, wie oben schon beschrieben, keine Auswirkung hat. |
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