Das sprachlich-symbolische Werden der Seele

Die Außenwelt selbst hat gar keinen Einfluss auf die Seele; sie hat keinen Zugang zur Seele und kann sie weder umstimmen noch irgend bewegen; die Seele stimmt und bewegt sich vielmehr selber allein; und entsprechend den Urteilen, die sie über sich selber fällt, schätzt sie auch die ihr vorliegenden Dinge.

Marc Aurel

Das Lernen ist eine Aktivität der Seele. Es besteht nicht darin, dass die Seele etwas Neues und Fremdes von Außen aufnimmt, sondern darin, dass sie sich (etwa durch einen Anstoß von einem Lehrer) an ein Wissen erinnert, das sie eigentlich bereits besaß, über das sie aber zuvor nicht bewusst verfügen konnte. Dieses Wissen, die Kenntnis der Ideen und aller Dinge, hat sie aus ihrem vorgeburtlichen Dasein mitgebracht. Sie hat es an einem „überhimmlischen Ort“ erworben; hinzu kommen ihre Erfahrungen aus ihren früheren Erdenleben und aus der Unterwelt. Durch Wiedererinnerung (Anamnesis) macht sie sich das verschüttete Wissen verfügbar.

Platon

In ordinary fifth century Greek, having soul is simply being alive; hence the emergence, at about this time, of the adjective 'ensouled' [empsuchos] as the standard word meaning "alive", which was applied not just to human beings, but to other living things as well.
What is in place, then, at this time is the notion that soul is what distinguishes that which is alive from that which is not.

However, it is not just that soul is said to be present in every living thing. It is also the case that an increasingly broad range of ways of acting and being acted on is attributed to the soul. Thus it has come to be natural, by the end of the fifth century, to refer pleasure taken in food and drink, as well as sexual desire, to the soul.
In context of intense emotion or crisis, feelings like love and hate, joy and grief, anger an shame are associated with the soul.

Stanford Encyclopedia of Philosophy

Wenn man nun das wissenschaftliche Selbstverständnis der Psychologie anhand ihrer objektiven Wissensbestände sowie ihrer Forschungspraxis betrachtet, wie sie sich in Publikationen, Kongressen, Selbst-darstellungen und fachpolitischen Aktivitäten ausdrücken, dann ist festzustellen, dass das Wort "Seele" nicht mehr auftaucht. In den deutschsprachigen Publikationen nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich der Begriff kaum mehr. Der größte Teil der weltweiten wissenschaftlichen Publikationen ist in englischer Sprache verfasst und hier gibt es so gut wie nicht mehr das Wort "soul". Stattdessen dominieren 'mind' und 'mental'. Ähnlich sieht es im deutschsprachigen Raum aus. Von Seele ist nur die adjektivische Form "seelisch" übriggeblieben. Der Zweck dieses Adjektives besteht in erster Linie darin, eine Möglichkeit der Unterscheidung zu "körperlich" oder "physisch" zu haben, ohne dabei eine besondere ontologische Verpflichtung eingehen zu müssen.

Vor allem seit der deutschen romantischen Naturphilosophie und romantischen Medizin, aber auch seit dem Biedermeier, ist das Wort 'Seele' mit viel Gemüt aufgeladen worden, nicht zuletzt als Reaktion gegen die rationalistisch orientierte Aufklärung. Die Seele konnotiert auch so etwas wie den Wesenkern des Menschen, denn der Verlust der Seele scheint etwas zu sein, das einen Menschen entmenschlicht.
Darin kann man auch ein wichtiges Bedürfnis erkennen, das sich am Festhalten des Wortes 'Seele' ausdrückt. Es ist das Bedürfnis, die vielen seelischen Eigenschaften, die jemand hat, an etwas festzumachen. Die Seele bezeichnet das Insgesamt dessen, was wir der Innerlichkeit zuordnen, wobei die Innerlichkeit phänomenal nicht der Körper ist, sondern phänomenal etwas im Körper zu sein scheint.

Wolfgang Mack

 

Die Seele in der Philosophie

Als in den griechischen Stadtstaaten mit dem Beginn der Philosophie das "rationale" Denken den Mythos nach und nach verdrängte und mit Parmenides von Elea die "logische" Begründung des Seins einsetzte, begann vor allem mit Anaxagoras von Klazomenai (Zitat: "Die anderen Dinge haben an jedem Anteil; der Geist aber ist etwas Unendliches und Selbstherrliches, und er ist mit keinem Ding vermischt") die Denkkraft des Menschen, der Geist (nous), mittels dessen "Mediums" Sprache die unmittelbaren Wahrnehmungen der Sinne durch die Vernunft zu ergründen.

Von Anfang des Denkens in Sprache an stellte sich dabei die Frage nach dem Wesentlichen, was ein Lebewesen überhaupt ausmacht. Der erstmals in den mündlich überlieferten homerischen Epen belegte Begriff "Psyche" gilt allgemein als Ausgangspunkt einer Diskussion, die bis heute anhält. Das Substantiv hängt vermutlich mit dem Verb psychein (blasen, atmen) zusammen und bedeutete ursprünglich wohl Hauch oder Atem, dessen Präsenz zu Homers Zeit als die Voraussetzung für das "am Leben sein" erachtet wurde.
Unmittelbar damit zusammen hängt der sehr früh im sprachlich-symbolischen Denken der Menschen "umhergeisternde" Glaube an ein Leben nach dem physischen Tod eines Lebewesens. Es galt zu ergründen, was genau das offensichtliche Ableben und den offenkundigen Verfall des Körpers überdauern könnte, und wo diese neue Form des ehemaligen Geschöpfs vom Moment des Todes an wohl verbleiben würde.

Wie wir sehen werden, kamen die Intuitionen der "kundigen Männer" aus dem frühen Griechenland dem Kern der Problematik ziemlich nahe. So beschreiben einige sogenannte Vorsokratiker die Psyche als Bewegungsprinzip des sich selbst und anderes Bewegenden, eine Einschätzung, die dem biologischen Ausgangsimpuls zur Entwicklung kognitiver neuronaler Systeme und damit zur "Erkenntnisfähigkeit" entspricht (siehe weiter unten).
Gleichzeitig herrschte von Beginn an ein ziemliches Durcheinander zwischen den Begriffen Psyche bzw. Seele und Geist. Mal wurde dem einen, mal dem anderen zugeschrieben, die Ursache für das zu sein, was ein Lebewesen ausmacht, und mal war es die eine, mal der andere, was dessen physischen Tod überdauern konnte. Desgleichen wurden die beobachtbaren körperlichen, emotionalen und auch geistigen Phänomene mal dem einen und mal dem anderen zugeschrieben.
Eng damit verknüpft war folglich die Frage nach der möglichen Konsistenz von Psyche, Seele und Geist. Den nachprüfbaren Beobachtungen nach hatte etwas "Materielles" keine dauerhafte Existenz, also konnte das, was überdauern sollte, nur immaterieller Natur sein.

Höchst interessant für meine Argumentation sind nun zwei Kernaussagen der beiden großen griechischen Philosophen Platon und Aristoteles.

Platon schien anzunehmen, dass die Seele immateriell und unsterblich sei. Auch war die Vernunft als Teil des Denkens, mit vermutetem Sitz im Gehirn, neben der Begierde und dem Willen eine der drei wesentlichen Ausprägungen der Seele. Darüber hinaus spekuliert er, dass die "unsterbliche Seele" sich bei der Geburt eines Menschen mit den "übrigen" Seelenteilen vermischt und die individuelle Menschenseele nichts Neues von Außen aufnimmt, sondern sich vielmehr an ein Wissen "erinnert", das sie eigentlich bereits besaß, über das sie aber zuvor nicht "bewusst" verfügen konnte. Dieses Wissen, die Kenntnis der Ideen und aller Dinge, hat sie angeblich aus einem "vorgeburtlichen" Dasein mitgebracht.
Schließlich spricht Platon von einer Weltseele, die den Kosmos als Ganzen "beseelt". Diese Idee wird von Plotin im dritten Jahrhundert nach Christus aufgegriffen, der der Überzeugung war, dass die "Weltseele alle Einzelseelen umfasst".

Sprechen diese Philosophen von dem phylogenetischen Erfahrungsfundus, den ich postuliere? Intuitiv hatten Platon und Plotin dabei zwar die von ihnen beobachteten Phänomene einer transzendenten kosmischen Kraft zu deuten gewusst, sich dann jedoch bei deren Erklärung zu sehr zwischen den Hypothesen über Seele und Geist verirrt.
Deshalb ist es absolut an der Zeit, die Verwendung des Begriffs "Wissen", der spätestens seit Platon in fataler Weise ohne klare Differenzierung auf Seelisches wie auch Geistiges angewendet wurde, zu präzisieren. Denn in seinem versuchten Seelenbeweis spricht Platon davon, dass Wissen nur ein Sich-Erinnern ist und die Seele damit vor der Geburt existiert haben müsse. Gleichzeitig verrennt er sich mit seiner Ideenlehre in einer Interpretation geistiger Funktionen und Wahrnehmungen, die zu einer verheerenden Fehleinschätzung menschlicher Erkenntnis durch geistiges Denkens geführt hat. Die "Formen" der Naturdinge sind danach ohne Stoff und folglich nur dadurch in Wirklichkeit verstehbar.
Unglücklicherweise blieb ihm selbst und eigentlich fast allen denen, die ihm nachfolgten, der virtuelle Charakter der intersubjektiv geschaffenen rein sprachlichen Repräsentationsebene verborgen, in die das menschliche Denken in der Symbolik der Sprache geraten war. Erkenntnis wurde zur Sache des Geistes, Seelisches zum Mysterium. Seitdem herrscht ein fatales Durcheinander darüber, welche Instanzen Seele und Geist im Grunde sind und was sie für das menschliche Schicksal bedeuten.
Gerade dass sich die seelischen Instanzen in der jeweils lebenden Generation tatsächlich "erinnern", jedoch nicht im Sinne von durch Sprache vermitteltem symbolischen Wissen, sondern vielmehr durch genetisch codierte über emotionale Prozesse vermittelte phylogenetisch gesammelte Überlebenserfahrungen, wurde nicht "erkannt".

Gehen wir aber zunächst noch weiter zu Aristoteles, der nicht von der Unsterblichkeit und einer Immaterialität der Seele ausging. Vielmehr sah er darin die gestaltende Formursache des Körpers, dessen Entelechie, d.h. die sich im Stoff des Körpers verwirklichende Form, die unmittelbar mit ihm verbunden war und nicht unabhängig von ihm existieren konnte.
Auch Aristoteles ging dagegen, ähnlich wie Platon, von einer dreistufigen Seele aus: der vegetativen (Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung), der animalischen (Wahrnehmung, Bewegung, Strebevermögen) und der denkenden Stufe, die er als den Geist (nous) bezeichnete. Der "nous" ist dabei zwar als möglicher "Intellekt" in der Seele angelegt, als tätiger oder wirkender Intellekt jedoch eine vom Körper und auch von der Seele unabhängige Substanz, die von außen hinzutritt und erst damit aus der Möglichkeit des menschlichen Denkens eine Wirklichkeit macht. So entsteht daraus die "menschliche Denkseele", die alle Formen in sich aufnehmen kann. Ihre Erkenntnisse gewinnt sie nicht wie bei Platon durch Wiedererinnerung, sondern aus den Objekten der Sinneswahrnehmung, indem sie abstrahiert. Diese Denkseele bleibt vom physischen Organismus getrennt und ist daher von dessen Tod nicht betroffen; sie ist leidensunfähig und unvergänglich. Daraus scheint Aristoteles jedoch keine individuelle Unsterblichkeit der einzelnen Person abzuleiten.

Könnte sich in diesen noch sehr intuitiven Annahmen das neuronale Netzwerk des menschlichen Geistes andeuten, in dem die in der Sprache erfolgenden Abstraktionen und daraus intersubjektiv geschaffenen Sinnkonstruktionen der menschlichen Spezies verwaltet werden? Und lässt sich darin nicht das Konstrukt der Person in der Sprache erkennen, das den physischen Tod des Geschöpfs überdauert, auf das es verweist?

Unglücklicherweise wussten Platon und Aristoteles einerseits noch nichts von neuronalen Netzen und deren phantastischen Leistungen, während sie andererseits den symbolischen Charakter des Denkens in Sprache fast schon sträflich unterschätzten oder vernachlässigten, obwohl das spätestens seit Parmenides von Elea und dem Redner Georgias von Leontinoi thematisiert worden war. Verheerend für das Denken der ihnen nachfolgenden Generationen und die ganze Menschheit wurde deshalb, dass Aristoteles die von Platon bereits weiterentwickelte Unterscheidung zwischen der Welt des Intellekts und der Welt der Sinne aufgriff und in fataler Weise präzisierte: die aristotelische Trennung in rational und irrational begann den denkenden Menschen von den Wurzeln seiner Natur zu entfremden und die Möglichkeit zum Erkenntnisgewinn allein durch den Geist konnte zur beherrschenden Doktrin werden.

Bertrand Russell ist wohl auf der richtigen Spur, wenn er annimmt, dass die aristotelische Individualität - nämlich das, was den einen Menschen vom anderen unterscheidet - mit dem Leib und der irrationalen Seele zusammenzuhängen scheint, das Irrationale uns Menschen also trennt und das Rationale uns eint. Indem dann Aristoteles auch noch die Vernunft zu etwas göttlichem erhebt und vollkommene menschliche Glückseligkeit in der Kontemplation der rationalen Seele postuliert, wird der Geist zum alleinigen Medium allen menschlichen Strebens nach Glück und Erfüllung. Was für ein verhängnisvoller Ansatz!

Es ist gerade der "rationale" Geist, der uns trennt, die Vernunft, die die Unterscheidungen trifft und rechtfertigt, die uns spalten. Es ist dagegen gerade die "irrationale" Seele, deren Regungen und Bedürfnisse uns verbinden!

 

Heute ordnet die Philosophie das "Leib-Seele-Problem" gleich dem Geist zu, indem "Seelisches" in der Frage nach der Möglichkeit von kausalen Beziehungen zwischen "geistigen" und "körperlichen" Ereignissen unmittelbar ausgeklammert wird. Meinungen, Überzeugungen, Wünsche, Willensakte, Glücksgefühle, ja sogar die subjektiven Qualitäten von Schmerz-, Geruchs- oder Farberlebnissen werden zu "mentalen" Entitäten, die keine "seelischen" Aspekte mehr enthalten.

Die Seele in der Theologie

 

Die Seele in der Psychologie

Auch die Psychologie -also immerhin wörtlich die "Seelenlehre"-, vermeidet inzwischen im deutschsprachigen Raum den Begriff der Seele und wird üblicherweise als Wissenschaft des Erlebens und Verhaltens angesehen. Im englischsprachigen Raum ließ man "die Seele" sogar gleich fallen, da der Begriff "soul" zu sehr religiöse und eschatologische Bezüge mit sich trägt. Stattdessen dominieren dort die Begriffe "mind" und "mental", womit in diesem semantischen Kulturkreis die Wende zum "geistigen" schon in den Anfängen der wissenschaftlichen Psychologie vollzogen wurde.

Die Seele in der Neurologie

 
 
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