Das Rätsel "Seele"
Als der Mensch damit begann, in der Symbolik der Sprache ein ihm selbst bewusstes Sein zu denken, wurde ihm einerseits unmittelbar dessen physische Endlichkeit gewahr. Andererseits sorgte gleichzeitig die weiter andauernde "virtuelle" Präsenz der durch Mimik und typische, auf sie bezogene Laute symbolisch repräsentierten Gefährten, auch nach deren offensichtlichem Ableben und dauerhafter physischer Abwesenheit für Aufregung unter den noch Lebenden. Das "virtuelle, mimisch-lautliche Konstrukt" der Toten geisterte anhaltend durch ihre intersubjektiv entstehende symbolisch-sprachliche Kommunikationsdimension und erschienen dadurch weiterhin eigenartig anwesend zu sein.
Am nachhaltigsten dürfte diese "symbolische" Präsenz bei solchen Gefährten gewesen sein, die zu Lebzeiten starke und das gemeinsame soziale Miteinander regelnde Autoritäten gewesen waren. Die Frage, was hätte das eine oder andere nicht mehr unter den Lebenden weilende Hordenmitglied, das die Lebensführung der Gemeinschaft stark geprägt hatte, in für die Allgemeinheit kritischen Situationen unternommen, dürfte von Beginn an Bestandteil der intersubjektiv entstehenden symbolischen Kommunikationskultur gewesen sein.
Diese scheinbare, "symbolische" Präsenz toter Gefährten führte in der menschlichen Spezies dann wohl schnell zu dem Eindruck, die Verstorbenen wären zwar physisch offensichtlich tot, jedoch weiterhin eigenartig anwesend und mit erheblichem Einfluss auf das Miteinander ausgestattet. Obwohl nur virtuell zugegen, schienen die Toten weiter unter den Lebenden zu weilen und zu wirken. Es musste also etwas geben, was das Ableben und den Verfall ihrer Körper überdauern konnte. Dass dieses "Etwas" nur ein symbolisches, intersubjektiv geschaffenes mimisch-sprachliches Konstrukt war, konnte der erwachende Geist unserer Vorfahren nicht "durchschauen". Schon damals, wie auch überwiegend noch heute, wurde der menschlichen Spezies nicht transparent, wie sehr ihr keimender Geist in der entstehenden sprachlich-symbolischen Dimension einen virtuellen Kosmos erschuf, der ihm selbst als Realität erschien. Wie dem auch sei, die Toten fingen an, sich in dem symbolischen, intersubjektiv geschaffenen Kommunikationskosmos der Lebenden einzurichten und von ihrem eingebildeten Schattendasein aus deren Lebensführung zu beeinflussen.
Sich der reinen Symbolik ihres geistigen Universums - bis heute - nicht bewusst, fing in der menschlichen Spezies das Rätseln über das, was nach dem physischen Tod eines Geschöpfs weiter unter den Lebenden scheinbar verweilt, an zu wuchern. Gleichzeitig fiel den Schlaueren unter den Lebenden auf, wie gut sich der Glaube an ein Weiterleben und die "eingebildete" Anwesenheit der Verstorbenen zur Regelung des sozialen Miteinander einsetzen und "instrumentalisieren" ließ. Die normative Gestaltungskraft der symbolisch unter den Lebenden verweilenden Toten wurde ein fester Bestandteil der Entwicklung und Steuerung der sozialen Systeme, die sich in der Symbolik der Sprache zu formieren begannen. Darauf werden wir in dem Kapitel "Genesis sozialer Systeme" zurückkommen.
Wann und wie dann das "Etwas", das in der mimisch-sprachlichen Symbolik des Geistes den Tod eines Geschöpfs überdauerte, zum eigentlichen Lebensprinzip an sich wurde, fällt vermutlich in die Epoche der Menschwerdung, in der der menschliche Geist seinen eigentlichen Triumphzug begann und dessen symbolischer Kosmos sich endgültig als einzig "wahre" Wirklichkeit in den Köpfen des Homo sapiens durchsetzte. Ebenfalls in dieser Phase tauchte allem Anschein nach die Frage danach auf, was in jedem einzelnen Geschöpf die inneren Phänomene wohl erzeugt, die nicht unmittelbar dem Körperlichen eigen zu sein scheinen.
Es waren wahrscheinlich griechische Mystiker und Dichter, die zwischen eintausend und achthundert vor Christus den Begriff "Psyche" konstruierten und darin die Phänomene subsumierten, die es bezüglich der obigen Fragen zu erörtern und zu erklären gab. Zunächst nur als das "Etwas" gedacht, dessen Präsenz für das Leben eines Geschöpfs notwendig ist, umfasste dessen Bedeutung bald auch all das, was am Menschsein allgemein rätselhaft erschien. So wurden dem Begriff schließlich sämtliche körperlichen, emotionalen und auch geistigen Phänomene zugeordnet, die lebende Geschöpfe gegenüber allem "Leblosen" auszeichnete. Der Begriff "Seele", der sich vor allem im deutschsprachigen Raum herausgebildet hatte, bedeutet in diesem Zusammenhang im Grunde dasselbe wie der Begriff "Psyche".
Durch die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft wird im heutigen Sprachgebrauch der Begriff "Psyche" jedoch mehr auf die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge bezogen, während der Begriff "Seele" darüber hinaus körperliche Vorgänge noch sehr viel stärker mit einbezieht. Bis dato ist somit nicht genau eingrenzbar, was mit dem Begriff "Seele" wirklich gemeint ist. Je nach Quelle wird damit Empfindungsleben, Gefühlsleben, Gemüt, Innenwelt, Inneres oder eben Psyche assoziiert.
Seit langem ist auch sehr umstritten, ob die Seele ein fester Bestandteil des menschlichen Körpers sei, und selbst wenn sie das wäre, wo in diesem sie sich denn aufhalten könnte. Gleichermaßen wird äußerst kontrovers diskutiert, inwieweit neben dem Menschen auch andere Geschöpfe eine Seele besitzen.
Des Weiteren bereitete es bis heute ziemliche Schwierigkeiten, die Seele von dem zu unterscheiden und zu trennen, was die Menschen in der Sprache den menschlichen Geist nennen. Bemerkenswert an der aktuellen Diskussion in der sprachlich-symbolischen Dimension ist dabei, dass der Begriff der Seele darin eine untergeordnete, zuweilen sogar gar keine Rolle mehr spielt.
Wie kam es dazu, dass der durch die modernen Wissenschaften geprägten Menschheit die Seele im Laufe der Zeit "verloren" gegangen ist? Und entgeht dem mithin dominierenden menschlichen Geist in seiner typischen, ignoranten Art dabei vielleicht, dass er, indem er über sich selbst nachdenkend die Seele für obsolet erklärt, in seiner rein symbolischen, sprachlich-virtuellen Existenz den Blick für die Dimension verliert, die gänzlich ohne Sprache seine materielle Existenz trägt?
Wollen wir das Werden der Seele somit begreifen, muss man sehr genau zwischen der biologisch-physischen und sprachlich-symbolischen Dimension unterscheiden. In der biologisch-physischen finden wir das kosmische Verfahren, über das Überlebenserfahrung und Überlebenswissen von Generation zu Generation weitergereicht werden. In der sprachlich-symbolischen findet dagegen die geistig-sprachliche Beschreibung von Phänomenen statt, die seelische Prozesse auslösen und steuern.
Diese Unterscheidung ist wesentlich, da die Seelen ganz ohne Sprache das Verhalten ihrer Geschöpfe im Sinne evolutionär erworbener Erfahrungen steuern. Der Geist hat darauf keinen unmittelbaren Einfluss, kann nur zu beschreiben versuchen, was mit dem Körper passiert, in dem er sich zusammen mit seiner Seele befindet.
Wir müssen uns also dem Begriff der Seele auf zwei unterschiedlichen Ebenen nähern, der biologisch-physischen und der sprachlich-symbolischen. Auf der einen Ebene wirkt die kosmische Evolution, auf der anderen der menschliche Geist, der die wirkenden Kräfte zu begreifen und zu beschreiben sucht.
Zunächst gehen wir deshalb der Frage nach, wie das, was wir Seele nennen, vermutlich evolutionär entstanden ist und wie es in den Gehirnen mittels eines völlig autonomen neuronalen Netzwerkes das Verhalten seiner Geschöpfe steuert.
Anschließend gehen wir darauf ein, wie der Mensch in der Sprache die Phänomene beschreibt, die er dem Begriff Seele zuordnet.
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