Das Rätsel Mensch
We are a biological species arising from Earth's biosphere as one adapted species among many; and however splendid our languages and cultures, however rich and subtle our minds, however vast our creative powers, the mental process is the product of a brain shaped by the hammer of natural selection upon the anvil of nature.

Edward O. Wilson

I want to argue that the real differences lie in our capacitiy to live in an imagined world.

Robin Dunbar

 
Seit Jahrtausenden rätselt der Mensch über das Wesen der Seele und des Geistes sowie über Ratio und Irratio seines Wesens. Denn trotz seiner ihm so offensichtlich mächtig und allen anderen Lebewesen überlegen erscheinenden geistigen Fähigkeiten beschleicht ihn beständig die Ahnung, dass da eine Kraft in ihm wirkt, auf die dieser Geist keinen unmittelbaren Einfluss hat.
Eng mit dem Rätsel Seele und Geist ist das Problem Bewusstsein verknüpft, das die fähigsten Denker der Menschheitsgeschichte beständig herausfordert und in der sprachlich-virtuellen Dimension der Sprache wilde Blüten treibt.
Sich in seiner Wahrnehmung als Einheit erlebend ist dem Menschen lange entgangen, dass die Welt nicht so einfach in seinen Kopf, sein Gehirn kommt, und dort schon gar keine homogene, in sich geschlossene und singuläre phänomenale Repräsentation und Wirklichkeitskonstruktion stattfindet. Ihm war sein Geist die einzig "wahre" Instanz, die die Gesetze des kosmischen Universums erfassen und danach handeln konnte.

Nur langsam "begreift" dieser "Geist", dass er nicht die dominierende Instanz in dem Körper ist, dessen Schicksal er zu lenken glaubt. Nur langsam wird ihm "gewahr", dass er keine von diesem Körper losgelöste und von ihm unabhängige Einheit bildet, die dessen Tod überdauern könnte.

Wenn wir Menschen das verstehen wollen, müssen wir erkennen, dass die Welt der Sprache, die uns als Realität erscheint, nur eine unter den Menschen intersubjektiv stabilisierte symbolische Repräsentation der Phänomene ist, die in unseren Gehirnen in einem autopoietischen neuronalen System aus den Signalen der senso-motorischen Nervennetzwerke konstruiert werden. Wir müssen dazu erkennen, dass dieses "mentale System" in unserem Gehirn zwar der Ort ist, an dem die Symbolik der Sprache verwaltet und damit die Anschlussfähigkeit in der sprachlich-virtuellen Dimension gewährleistet wird, jedoch andere, ebenfalls autopoietische neuronale Systeme sämtliche physischen Zustände unseres Körpers steuern. Vor allem das "seelische System" beeinflusst auf der Basis aller vorangegangenen Überlebens-Erfahrungen einer Spezies über emotionale Mechanismen massiv das Verhalten der jeweils lebenden Generation unter den jeweils vorherrschenden biologisch-physischen Bedingungen.
Relativ unabhängig davon steuern weitere autopoietische Neuronen-Systeme den Metabolismus und die Bewegungsfähigkeit des Organismus. Das menschliche Geschöpf "lebt" und "bewegt" sich lange bevor die "mentale" Erkenntnis über Sprache einsetzt, dass es das tut. Leben und Bewegung sind also basale Prozesse, die keinerlei "Bewusstsein" benötigen, um zu existieren, ja sie existieren völlig unabhängig und vorrangig zu jeglichem "Bewusstsein". Das neuronale System, das schließlich das Wunder des Lebens und der Bewegung registriert und sprachlich benennt ist auch nur Beobachter eines Vorgangs, den es nur mittelbar beeinflussen, jedoch nicht unmittelbar determinieren kann. Leben und Bewegung sind völlig unabhängige, in sich operational geschlossene Prozesse, die kein "Bewusstsein" benötigen und diesem vorangehen.

Diese Erkenntnis hat erhebliche Konsequenzen für die Einflusssphären, die wir dem jeweiligen System zuschreiben können.
Der Geist versucht - auf der Basis der ihm in der Symbolik der Sprache zugänglichen Sinnkonstruktionen - den Anschluss in der sprachlich-virtuellen Dimension seiner Spezies durch sinnvolles Verhalten zu gewährleisten.
Die Seele dagegen versucht - auf der Basis des Überlebens-Fundus ihrer Spezies - den Anschluss in der biologisch-physischen Dimension durch evolutionär bewährtes Verhalten zu gewährleisten.
Beide Systeme können sich gegenseitig und alle anderen basalen operational geschlossenen Neuronensystem lediglich perturbieren, nicht jedoch determinieren. Beide System sind angewiesen auf funktionierende metabolische und Bewegung steuernde neuronale und zellulare Instanzen, die ihre Signale empfangen und dann entsprechend ihrer ganz eigenen autopoietischen Funktionsweise umsetzen. Beide Sytseme sind weiterhin darauf angewiesen, dass die phänomenalen Systeme ein möglichst genaues Abbild des Umfeldes liefern, in dem der Organismus lebt und sich bewegt.
Alle System sind dabei lernende System, die je nach der Art ihrer ganz eignen Prozesslogik unabhängig voneinander die auftretenden Ereignisse verarbeiten und in lebenserhaltende Funktion umsetzen können.
Es wird unter dieser Betrachtungsweise offensichtlich, dass sich die beiden "oberen" Gehirninstanzen Geist und Seele bei dem Versuch, das Verhalten ihres Trägers im Sinne ihrer jeweiligen Aufgabe zu steuern, ziemlich in die Quere kommen und teilweise sehr widersprüchliche Impulse an die "nachgelagerten" Systeme senden können, die schließlich die Umsetzung in überlebenserhaltende Reaktionen übernehmen.

Schließlich können wir durch diese Erkenntnis auch den Ort lokalisieren, in dem sich menschliches Bewusstsein bildet. Es entsteht in unseren Gehirnen in dem autopoietischen neuronalen Netz, dem "mentalen System", in dem über die Symbolik der Sprache eine virtuelle Projektion des Seins entstehen kann, in der das Geschöpf als "Person" erscheint. Nur dieses virtuelle Konstrukt kann die Gebundenheit des Seins an die Gegenwart überwinden, damit in der ebenfalls virtuellen Dimension der Zeit eine Vergangenheit sowie Zukunft konstituieren und darin den biologisch-physischen Kosmos transzendieren.
In dieser konstruierten "zeitlichen" Ausdehnung in der sprachlich-virtuellen Projektion des Seins entsteht zunächst eine Reflexion und dann ein "Wissen über das Sein" und "über ein Selbst", repräsentiert in der "Person", die dem menschlichen Geist als "real" erscheint.

 
 
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