Elementare Begriffe

...das Nervensystem in der phylogenetischen Geschichte der Lebewesen sich als ein besonderes Zellgewebe derart in den Organismus eingebettet hat, dass es Punkte der sensorischen mit Punkten der motorischen Flächen koppelt. Somit wird das Feld möglicher sensomotorischer Korrelationen der Organismen im Rahmen einer solchen Koppelung durch ein Neuronennetz ausgeweitet, mithin der Verhaltensbereich erweitert.

..., ein System ist autonom, wenn es dazu fähig ist, seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren.

Vielmehr hängen die Phänomene, die autopoietische Einheiten in ihrem Operieren erzeugen, von der Organisation der Einheit und von der Art ab, wie diese verwirklicht wird, und nicht von den physikalischen Eigenschaften ihrer Bestandteile, welche nur den Raum ihrer Existenz bestimmen.

Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela

Das Nervensystem ist als Netzwerk interagierender Neuronen gegeben, das eine Erscheinungswelt erzeugt, die im Dienste der Autopoiese des Organismus steht, in den es eingebettet ist.

Als geschlossenes neuronales Netzwerk operiert das Nervensystem als zustandsdeterminiertes System so, dass es Relationen neuronaler Aktivität erzeugt, die unabhängig von den Umweltbedingungen nur durch seine Struktur determiniert sind.

Humberto R. Maturana

Humberto R. Maturana und der leider schon verstorbene und damit lediglich noch in der sprachlich-virtuellen Dimension existierende Francisco J. Varela haben mit dem Begriff "Autopoiese" nicht nur eine fundamentale Funktion "lebender Systeme" umschrieben.
Sie weisen damit auch den Weg zum Verständnis von Seele und Geist.

Phylogenese

Die Phylogenese ist die Stammesgeschichte einer Spezies, d.h. ihre ganz spezifische evolutionäre Entwicklung bis zu den aktuell lebenden Geschöpfen.

In gemeinsamer Phylogenese, d.h. gemeinsamen stammesgeschichtlichen Wurzeln entstanden Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen aktuell unterschiedlichen Spezies, die kognitive und seelische Brücken für gelingende Kommunikation und gegenseitige Verhaltenskoordination bilden.

Nur der Mensch hat über die Entwicklung der Sprache eine symbolische Dimension aufgetan, in die ihm kein anderes Lebewesen folgen kann.

Ontogenese

Ontogenese meint in der Regel die Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand.

Beim Menschen bedeutet das die körperliche, seelische und geistige Entwicklung jedes Einzelnen, die je nach den jeweiligen genetischen, familiären, gesellschaftlichen und ökologischen Umständen sehr unterschiedlich verlaufen kann.

In der Ontogenese jedes Einzelnen formt sich dessen Körper, Charakter sowie Intellekt heran und bildet in deren jeweils einzigartigen Kombination aus körperlichen, emotionalen und intellektuellen Eigenschaften die Basis für seinen Lebensweg in seinem jeweiligen gesellschaftlichen und ökologischen Umfeld.

Emergenz

Mit Emergenz bezeichnet man das Erscheinen neuer Qualitäten im Zusammenwirken von Elementen, die sich aus den Eigenschaften der beteiligten Elemente nicht erklären lassen. Emergente Wirkungen sind somit auf der Ebene, aus der sie emergieren, kausal nicht vollständig erklärbar.

Das Verhalten eines Systems von Elementen kann demnach nicht aus den Eigenschaften der beteiligten Elemente heraus bestimmt werden. Vielmehr entstehen durch das Zusammenwirken der Elemente Qualitäten, mit denen das System als "Ganzes" über neue und deutlich andere Eigenschaften als jedes einzelne seiner "Teile" verfügt. Deshalb wird auch oft davon gesprochen, dass ein Ganzes mehr als sie Summe seiner Teile bedeuten kann.

Erst im Zusammenwirken der Teile entstehen somit Qualitäten in einem System, die teilweise erheblich von den Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes einzelnen Elements abweichen können.

Autopoiese

Mit der Theorie, dass das Charakteristische an Lebewesen ihre "autopoetische" Organisation ist und sie damit als autonome Einheiten zu betrachten sind, haben Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela eine ungemein weitreichende Variante in die Epistemologie eingeführt.

"Wenn wir von Lebewesen sprechen, haben wir bereits angenommen, dass es etwas Gemeinsames zwischen ihnen gibt, andererseits würden wir sie nicht zu der einen Klasse zählen, die wir «das Lebendige» bezeichnen. Damit ist allerdings nicht gesagt, worin die Organisation besteht, die sie als Klasse definiert. Unser Vorschlag ist, dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich - buchstälich - andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen)."

"Dass Lebewesen eine Organisation haben, ist natürlich nicht allein ihnen eigen. Es ist allen Gebilden gemeinsam, die wir als Systeme betrachten können. Dennoch ist den Lebewesen eigentümlich, dass das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt es gibt keine Trennung zwischen Erzeuer und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoetischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezfische Art von Organisation."

"Anzuerkennen, dass das Charakteristische an Lebewesen ihre autopoietische Organisation ist, erlaubt eine große Anzahl empirischer Daten über die zelluläre Funktionsweise und ihre Biochemie miteinander zu verbinden. Das Konzept der Autopoiese steht daher nicht im Widerspruch zu den bisher angesammelten Erkenntnissen; im Gegenteil, es lehnt sich ausdrücklich an sie an und schlägt explizit vor, diese Erkenntnisse aus einem spezifischen Blickwinkel zu interpretieren, der die Tatsache betont, dass Lebewesen autonome Einheiten sind.
Wir verwenden den Begriff Autonomie in seiner üblichen Bedeutung. Das heißt, ein System ist autonom, wenn es dazu fähig ist, seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren."
Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela
Lebende Systeme sind in diesem Sinne: "Interaktonseinheiten mit exergonischem Stoffwechsel, Wachstum und interner molekularer Replikation, die ihre Existenz durch einen geschlossenen kausalen Kreisprozess selbst organisieren. Diese zirkuläre Organisation stellt ein homöostatisches System dar, dessen Funktion darin besteht, eben diese zirkuläre Organisation selbst zu erzeugen und zu erhalten. Dies geschieht dadurch, dass das System genau jene Bestandteile determiniert, die die zirkuläre Organisation spezifizieren und die ihrerseits wiederum durch die zirkuläre Organisation synthetisiert oder erhalten werden."
Humberto R. Maturana

"Autos poiein", "selbst machen", klingt zunächst relativ harmlos. Folgt man jedoch der Argumentation von Maturana und Varela, ergeben sich daraus erheblich Konsequenzen für die Art und Weise wie Lebewesen und deren Wahrnehmung funktionieren.

Die Grundidee der Theorie der Autopoiesis besagt, dass komplexe Systeme sich in ihrer Einheit, ihren Strukturen und Elementen kontinuierlich und in einem operativ geschlossenen Prozess mit Hilfe der Elemente reproduzieren, aus denen sie bestehen.
Helmut Willke

Operationale Geschlossenheit

Ein System weist nach Maturana / Varela eine operationale Geschlossenheit auf, "wenn dessen Identität durch ein Netz von dynamischen Prozessen gekennzeichnet ist, deren Wirkungen das Netz nicht überschreiten".

Grundprinzip dabei ist, dass Lebewesen zwar mit der Umwelt, in der sie sich befinden, in einem regen stofflichen wie sinnlichen Ausstausch stehen, dass jedoch diese Umwelt keinen unmittelbaren Einfluss auf die Art und Weise hat, wie sich die biologischen und kognitive Prozesse in diesem abspielen. Jegliche materielle wie auch situative Veränderung der Umwelt löst somit keine direkte, deterministisch fixierte biologisch-kognitive Reaktion aus, sondern im Gegenteil, die Veränderungen in der Umwelt werden "nur" mittelbar im Lebewesen als Störung oder Perturbation seines jeweils vor dem Umweltimpuls herrschenden inneren Zustandes registriert.

Es ist also nicht die Veränderung der Umwelt selbst, sondern die Systematik der inneren Struktur des Lebewesens, die bestimmt, wie die Veränderung "wahrgenommen" wird und welche innere Zustandsanpassung daraufhin erfolgt.

Selbstreferenz

Ein entscheidender Aspekt des Autopoiese-Ansatzes ist die Selbstreferenz komplexer, operational geschlossener Systeme. Selbstreferenzielle Systeme sind selbststeuernde Einheiten und können von Umweltereignissen immer nur zu eigenen Operationen angeregt oder angestoßen werden, niemals jedoch von außen dazu determiniert werden. Auf welche Weise sie auf äußere Perturbationen reagieren entscheiden alleine die systeminternen auf sich selbst bezogenen Prozesse, in denen diese äußeren Perturbationen aufgenommen und entsprechend der systemeigenen Dynamik verarbeitet werden.

Strukturelle Koppelung

"Zwei plastische Systeme werden aufgrund ihrer sequentiellen Interaktionen dann strukturell verkoppelt, wenn ihre jeweiligen Strukturen sequentielle Veränderungen erfahren, ohne dass die Identität der Systeme zerstört wid. Die strukturelle Koppelung zweier unabhängiger strukturell plastischer Einheiten ist daher eine notwendige Folge ihrer Interaktionen und um so stärker, je mehr Interaktionen stattfinden. Wenn eines der plastischen Systeme ein Organismus ist und das andere System sein Medium, ergibt sich die ontogenetische Anpassung des Organismus an sein Medium: die Zustandsveränderungen des Organismus entsprechen den Zustandsveränderungen des Mediums. Wenn beide plastischen Systeme Organismen sind, ist das Ergebnis der ontogenetischen strukturellen Koppelung ein konsensueller Bereich, d.h. ein Verhaltensbereich, in dem die strukturell determinierten Zustandsveränderungen der gekoppelten Organismen in ineinander verzahnten Sequenzen aufeinander abgestimmt sind."
Humberto R. Maturana

 

Nervensystem

"Das Nervensystem ist als Netzwerk interagierender Neuronen gegeben, das eine Erscheinungswelt erzeugt, die im Dienste der Autopoiese des Organismus steht, in den es eingebettet ist. Ein geschlossenes neuronales Netzwerk hat weder Input- noch Outputoberflächen als charakteristisches Merkmal seiner Organisation, und auch wenn es durch die Interaktion seiner Bestandteile beeinflusst werden kann, gibt es für sein Operieren als System lediglich seine eigenen Zustände relativer neuronaler Aktivität, unabhängig von dem, was der Beobachter über ihren Ursprung sagen mag. Bei einem geschlossenen System existieren Innen und Außen nur für den Beobachter, nicht für das System. Die sensorischen und die effektorischen Oberflächen machen das Nervensystem nicht zu einem offenen neuronalen Netzwerk, da die Umwelt (in der der Beobachter sich befindet) lediglich als ein intervenierendes Element wirkt, durch welches die effektorischen und die sensorischen Neuronen interagieren und so die Geschlossenheit des Systems herstellen."
Humberto R. Maturana
 
 
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